Das Proletariat – gibt es das noch?

Jeder moderne Arbeitnehmer würde es weit von sich weisen, hieße man ihn einen Proletarier. Denn, so die übereinstimmende Meinung, Proletarier, das waren doch ganz andere, solche, die im 19. Jahrhundert unter erbärmlichsten Umständen in den Fabriken malochten, deren Familien verelendeten und die daher mit allem Recht und aller Kampfkraft ihrer Gewerkschaft gegen die ausbeuterischen Unternehmer und den Staat antraten, um sich gegen solche Zumutungen zu wehren.
Die heutigen Lohnabhängigen haben all das hinter sich gelassen, sie werden jetzt Arbeitnehmer genannt, sind Mitarbeiter ihres jeweiligen Betriebes und froh über ihren Arbeitsplatz. Mit der sozialen Marktwirtschaft sind sie so im Reinen, dass sie eine kämpferische gewerkschaftliche Vertretung eigentlich für überflüssig halten bzw. darauf setzen, Lohnfragen als Tarifauseinandersetzung mit der Gegenseite sozialpartnerschaftlich zu lösen.
Unbestreitbar hat das moderne Proletariat einige Veränderungen seiner Lebensumstände erfahren. Doch sind die Zwänge, denen es heutzutage ausgesetzt ist, wirklich völlig verschieden von denen, mit denen Leute vor hundert und mehr Jahren zu kämpfen hatten, die nichts anderes als sich und ihre Arbeitsfähigkeit zu verkaufen hatten, um sich zu erhalten
In modernen Fabriken und Büros sind Arbeitnehmer zugange, die in aller Freiheit Angebote annehmen, die ihnen die Arbeitgeber machen. Dann haben sie ihren Job, verfügen über ihre Erwerbsquelle und damit über ihr Mittel, etwas aus sich zu machen. Dieser freiheitliche Akt hat allerdings eine Kehrseite: Die Arbeitnehmer haben zwar die Freiheit der Auswahl, aber sie haben keinerlei Einfluss auf die Beschaffenheit des Angebots. Auswahl hin oder her, sie können nur die Arbeit nehmen, die die andere Seite gibt. Die Angebote, die die Arbeitgeber machen, sind bestimmt von deren Kalkulationen, und wenn sie arbeiten lassen, wollen sie noch allemal ihr Geschäft damit machen. Die Unternehmer stellen ein und aus nach ihrem betriebswirtschaftlichen Bedarf, und von einer Größe sind sie dabei gänzlich unbeeindruckt: Vom Bedarf der Arbeitnehmer nach einem Lebensunterhalt. Die brauchen zwar eine Arbeit, um leben zu können, nehmen können sie aber nur eine, wenn sie von der anderen Seite gebraucht werden. Wenn nicht, gibt es die Chance nicht, auf die sie unbedingt angewiesen sind. Arbeitnehmer mit ihrem Bedarf nach Arbeit sind also nichts als die unselbständigen Anhängsel der Arbeitgeber.
Haben sie dann einen Arbeitsplatz ergattert, dann mögen sie ihn für ein hohes Gut halten, gerade, weil es davon immer zu wenige gibt. Allerdings haben sie an ihrem Arbeitsplatz nichts zu bestimmen: Wie, unter welchen Umständen, wie schnell dort gearbeitet wird, richtet das Unternehmen ein. Und das Kriterium dafür ist jedermann geläufig: Rentabel muss produziert werden, sonst macht das Ganze ja keinen Sinn. Was heißt rentabel? Ganz einfach: Die Arbeit muss sich für den Arbeitgeber lohnen. Und für den Arbeitgeber ist klar, dass sie das umso mehr tut, je billiger sie ist, je niedriger also der Kostenfaktor Lohn, und je mehr Leistung er aus der Arbeit herausholen kann. Um diesen Nutzen des Unternehmers geht es und mit dem Nutzen des stolzen Arbeitnehmers hat das nur im umgekehrten Sinn zu tun: Er muss sich nämlich immer mehr anstrengen an seinem Arbeitsplatz, damit er ihn behält. Der Arbeitnehmer kann dann dabei zusehen, wie mit seiner Arbeit ein immer größerer Reichtum an Waren entsteht, der ihm nicht gehört. Sein Lohn hingegen ist – wenn überhaupt – so bemessen, dass er dafür reicht, am Anfang des nächsten Monats wieder zur Arbeit antreten können, und das Monat für Monat, inklusive so grandioser Wohltaten wie ein Urlaub, ein Auto und vielleicht sogar ein Häuschen.
Moderne Arbeitnehmer wissen, dass sie von der Gegenseite abhängig sind. Deswegen lassen sie sich aber noch lange nicht sagen, sie seien nicht Herren ihrer Lebensverhältnisse: Es kommt schließlich darauf an, was man daraus macht!
Sie haben die Möglichkeit, sich zu qualifizieren und mit Ausbildung, Erfahrung oder Belastbarkeit für sich werben. Was all das wert ist, hängt aber nicht an ihnen. Eine Qualifikation oder ein besonderes individuelles Merkmal sind nämlich genau so viel wert, wie sie gebraucht werden. Es muss einen unternehmerischen Bedarf danach geben, ein geschäftliches Interesse, das dieses Potenzial für sich ausnutzen will. Sonst gilt der Anbieter als unter- , über- oder gar nicht qualifiziert. Und wenn es „passt“, wenn der Unternehmer eine Qualifikation oder besondere Fähigkeit seinem Produktionsprozess einverleibt, muss der Arbeitnehmer regelmäßig die Erfahrung machen, dass im Verlauf der ständigen Produktivitätssteigerungen sein besonderes Angebot wieder überflüssig wird. Dann darf er sich sagen lassen, dass eben „lebenslanges Lernen“ ansteht, was ein anderer Ausdruck dafür ist, dass er sein Leben lang den Anforderungen des Betriebs hinterher rennen muss. Was auch bei größter Anstrengung keine Garantie für nichts ist.
Wenigstens sind aber sind die modernen Lohnabhängigen in Form der verschiedenen Sozialversicherungen vor den Wechselfällen des Lebens geschützt, wenn sie also als nicht mehr als rentabel angesehen werden aufgrund von Unbrauchbarkeit, Krankheit, Alter, was für frühere Generationen den Absturz ins Elend bedeutete. Abgesehen davon, dass die Definition dessen, was sie dann zum Leben brauchen, weder in ihrer Hand liegt, noch sich an ihren Bedürfnissen orientiert, ist es doch schon sehr interessant, was da als Errungenschaft der sozialen Marktwirtschaft verhandelt wird. Der Staat behandelt die gesamte Arbeitnehmerschaft als ein Kollektiv und verordnet dem eine Zwangssolidarität: Das sind die von jedem eingezogenen Beiträge zu den Versicherungen. Diese vom Staat zwangsweise eingezogenen Beiträge offenbaren nur Eines: Die Bewältigung der sogenannten Wechselfälle des Lebens strapaziert die Einkommen so gnadenlos, dass vom Lohn ein beträchtlicher Teil abgezogen werden muss, damit über die Umverteilung der Sozialkassen dann doch gesamtgesellschaftlich der Erhalt der gesamten Arbeiterschaft irgendwie klappt, wofür deren individuelle Löhne erklärtermaßen einfach nicht taugen. Und dass ist marktwirtschaftlich nur gerecht. Die Arbeitermannschaft verfügt nur über eine Erwerbsquelle, die Lohnarbeit. Deren ohnehin immer zu knappen Erträge haben die Bestreitung eines ganzen Arbeiterlebens zu leisten, auch wenn sie das gar nicht tun. Mit der von ihm dekretierten Zwangssolidarität setzt der Staat diese marktwirtschaftliche Logik praktisch durch. Heraus kommt eine staatlich administrierte Mangelverwaltung, bei der bei jeder Gesundheits-, Renten-, Pflegereform der Mangel aufs Neue hin und her geschoben wird, weswegen das Reformieren nie aufhört.
Was also sind heutige Arbeitnehmer, genauso wie der Proletarier vergangener Tage? Nichts als Manövriermasse in den Profitkalkulationen derjenigen, die sie arbeiten lassen, wenn ein Geschäft damit geht.
Moderne Lohnarbeiter sind auf ihre Weise Realisten und bilden sich auch noch etwas darauf ein. Allerdings besteht ihr Realismus nicht darin, die real existierenden Notwendigkeiten und Sachzwänge ihres Lebens als das zu nehmen, was sie sind, nämlich als Techniken der Ausbeutung, die dank der staatlichen Regelungen zu den Existenzbedingungen eines Jeden geworden sind. Der Realismus dieser pragmatischen modernen Proletarier besteht vielmehr in nichts anderem als in ihrem Willen zur Unterwerfung unter die Bedingungen, die ihnen aufgemacht werden.
Und deswegen darf man einen heutigen Lohnabhängigen auch auf keinen Fall Proletarier nennen. Aus allen Einwänden gegen ein Lohnsystem hört er nämlich nur noch einen Einwand gegen sich heraus, gegen seine Bereitschaft mit allen Scheußlichkeiten der abhängigen Arbeit zurechtkommen zu wollen. Wie er aber damit nur mithilft, seine permanente Schädigung weiter zu treiben, auf welche Weise er nutzbar gemacht wird für wirtschaftliche und staatliche Zwecke, die sich ständig gegen ihn richten, darüber gibt es ein Buch:
Das Proletariat. Politisch emanzipiert, sozial diszipliniert, global ausgenutzt und nationalistisch verdorben.“, erschienen im Gegenstandpunkt-Verlag
 

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