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Der Fußball-Fan ist – wie in der letzten Analyse erklärt – erst mal seinem Verein verpflichtet, darin hat er seine „Identität“, in der er aufgeht. Dass er da ein Kollektiv, ein „Wir“, bildet, das sich zu seinem Verein wie der Staatsbürger aus patriotischem Anlass zu seinem Vaterland verhält, das muss keiner von ihnen wissen.
Die Volkserzieher, die sich um zivilisiertere Fans bemühen und deren Rassismus, wenn der sich mal wieder zu militant gegen die Anhänger anderer Vereine äußert, bekämpfen, wissen aber schon, was Staat und Gesellschaft an dem allwöchentlichen Bundesliga-Zirkus haben. An den Millionen Fans entdecken sie nämlich eine nützliche Funktion: Da haben welche in der Anhänglichkeit an Idole und Vereine einen Lebensinhalt gefunden haben – davon können sie zwar nicht leben, aber, so die Volkserzieher, dass dient doch allemal dem sozialen Frieden in „unseren“ Gesellschaften.
Die Staatsgewalt selbst sorgt auf ihre Weise dafür, dass das Volksvergnügen Nr. 1 in diesem Sinne voll in Ordnung geht: Stadien werden nach staatlichen Richtlinien zu Hochsicherheitstrakten ausgebaut, mehrmals die Woche findet in zig Städten ein generalstabsmäßig geplanter Aufmarsch der Polizei statt, damit das öffentliche Leben halbwegs unbeschadet davonkommt, wenn Innenstädte im Griff der Fußball-Fans sind. Was sie in anderen Fällen – politischen Demonstrationen usw. – als nicht zu duldende Störung der öffentlichen Ordnung, u.U. als Angriff auf ihr Gewaltmonopol bewertet und dementsprechend verbietet und unterbindet, genehmigt die Staatsgewalt ausdrücklich als Teil ihres inneren Lebens und trägt mit erheblichem polizeilichem und zivilem Aufwand zum Gelingen der Angelegenheit bei.
Und nicht nur das. Die Staaten selbst leisten sich den Scherz, neben ihren politökonomischen Affären auch noch als Fußball-Mannschaften gegeneinander anzutreten, wo es weder Macht zu gewinnen gibt noch Geld. Fußball ist bei den politischen Herrschaften tatsächlich Nebensache – um unbefangenen Spaß an Spiel und Sport geht es ihnen trotzdem nicht, im Gegenteil. Die Staaten nehmen die einschlägigen Turniere bitterernst und lassen auch mal Milliarden für die besondere Ehre springen, sie ausrichten zu dürfen. Die Staaten präsentieren sich als Sportnationen, weil sie mit der Leistungsfähigkeit ihres Volkes, resp. dessen sportlicher Elite Eindruck auf die anderen Nationen machen wollen. Dieses ideologische Angebot, die eigene Nation unter diesem höheren Gesichtspunkt ihrer sportlichen Tüchtigkeit zu würdigen, hat bei allen Fußball-Völkern leider grandios eingeschlagen. Zu den Zeiten der großen internationalen Meisterschaften nimmt die Anteilnahme des Volkes am Schicksal der eigenen Mannschaft Formen an, als habe sich die Reihenfolge von Haupt- und Nebensache eines modernen kapitalistischen Staates umgedreht: Eifersüchtig wachen die Öffentlichkeit und das von ihr bediente Volk Tag und Nacht darüber, dass alles Richtige dafür getan wird, dass „wir“ gewinnen, „uns“ der Sieg nicht gestohlen wird, den „wir“ eigentlich verdienen.
Dieses verlogene Theater der Staaten, sich als Fußball-Nationen zu inszenieren, und sein starkes Echo bei Öffentlichkeit und fußballbegeistertem Volk, ist in seinem heutigen Umfang und seiner Bedeutung zur herausragenden Materie für die Idealisierung der staatlichen Ordnung geworden. Diese Idealisierung trifft auf ein so massenhaft verbreitetes wie grundverkehrtes staatsbürgerliches Bedürfnis. Denn wer an einem Länderspieltag seiner Mannschaft mit elf Auswahlspielern die Daumen drückt, begeistert sich nicht für die Merkel-Regierung oder die politischen Institutionen, also die ausführende staatliche Ordnungsgewalt, die ihm die restlichen 364 Tage des Jahres eben die Verhältnisse einbrockt, die dem Bürger übers ganze Jahr die Nöte mit seinem ganzen materiellen Leben einbringt. Genießen und frenetisch bejubeln lässt sich das nicht, darüber schimpfen die Menschen das ganze Jahr, haben ihre mehr oder weniger schlechte Meinung, freilich auf die eigentümliche Art, dass daraus nie etwas folgt. Aber alle schlechten Erfahrungen, die ganze Nörgelei kann der Begeisterung für ein Deutschland, das sie gerade im Stadion oder vor dem Fernseher anfeuern, nichts anhaben. Ihre täglich erlebte Unzufriedenheit mit dem Staat, für den sie Steuern zahlen, in dem sie Arbeitslosigkeit oder Altersarmut erleben, trennen sie nämlich ab von dem ganz grundsätzlich positiven Bezug ihres Willens auf dasselbe Gemeinwesen. Da heißt es nur noch: meine Nation – das Kürzel dafür, wie die Bürger eines Staates alle Schwierigkeiten, im Leben zurechtzukommen, ignorieren und unerbittlich daran festhalten, dass sie alle, das Volk, und ihr Staat eine unverbrüchliche Einheit sind. Für diesen fundamentalen Zusammenschluss braucht es keine Begründung und er lässt sich von keiner Schikane eines Sozialamts oder Arbeitgebers erschüttern.
Zu all dem passen die Fußball-Fans wie die Faust aufs Auge. Ihre Freizeitpraxis erhält hier die höhere Weihe: Jetzt sind sie mal als nationale Experten gefragt, sie können ihr im Vereinsleben erworbenes Expertentum einbringen. Auch wenn sie sich das gar nicht klar machen: Ihre Anhänglichkeit gilt nun nicht mehr bloß dem Verein, sondern auch der wirklichen politischen Gewalt. Denn wenn es es jetzt bloß noch um „Wir gegen die anderen“ geht, dann ist das wichtigste Kollektiv nun das nationale – es geht um den Sieg der Nation. Auftritte der Nationalmannschaft sind natürlich auch ein Angebot für das ganze Volk. Zahllose stinknormale Staatsbürger, auch solche, die ihre Anhänglichkeit zur Nation sonst sehr gebildet vorzutragen verstehen, werden als Deutsche Fußballfans und erleben im Spiel der Nationalmannschaft das Höchste der Gefühle. Dem entsprechend sieht das dann aus. Lauter höchst individuelle Persönlichkeiten leben ihren sehr einheitlichen Fimmel sehr einheitlich aus: Schminke, Fahne am Balkon oder Autorückspiegel in Schwarz-Rot-Gold. Dazu spendiert die staatliche Verwaltung den öffentlichen Raum, wo sich das ganze Volk in den Armen liegen kann: public viewing.
Angesichts dessen, wie das Volk und die Öffentlichkeit für den Erfolgsanspruch ihres Landes durchdrehen, üben sich die wirklichen nationalen Führer vergleichsweise in vornehmer Zurückhaltung. Die wissen in der nüchternen Kalkulation der staatlichen Zwecke schon noch, wo sich Wohl und Wehe ihres Staates wirklich entscheiden. Auf der anderen Seite lassen sich die demokratischen Herrschaften diese sittlich wertvolle Begeisterung nationaler Fußball-Fans für ihren Staat, in der die praktischen Verpflichtungen der Bürger durch ihre Politiker zumindest gefühlt ganz weit weg sind, verständlicherweise nur selten entgehen. Den Fehler der Massen, sich an der trostreichen ideellen Teilhabe an einem kollektiven Unternehmen zu berauschen, machen die demokratischen Herrschaften – die wahren Profiteure des internationalen Fußballwesens und der sich daran anheftenden nationalen Massenbegeisterung – natürlich demonstrativ mit. Als Fußball-Fans machen sie sich mit ihrem Volk gemein und leben so die Lüge vor, dass die Einheit von Bürger und Politiker in der privaten Begeisterung für die gleiche Sache, die Leidenschaft für den Fußball, ihren Grund hätte. Sobald die Spiele vorüber sind, machen die Politiker von der Solidarität des Volkes dann wieder auf ihre Art Gebrauch: Sie spannen ihre Bürger materiell für das Staatsprogramm ein, verlangen Gehorsam gegenüber der inneren Rechtsordnung und die allzeit bereite Gesinnung, für die Rechte der Nation gegenüber dem Rest der Welt praktisch einzustehen.
Kein Wunder daher, dass mit Blick auf den massenhaften Genuss am weltweit verbreiteten Nationalsport eindringlich vor dem Überhang zu manifestem Rassismus gewarnt werden muss. Er liegt ja so nahe, wird nicht bloß herausgefordert, sondern regelrecht kultiviert: der Wahn, als Angehöriger einer Nation, die etwas Unverwechselbares und unbedingt Wertvolles auf der Welt darstellt und dies auf dem Feld der Ehre zu einem ganz ausgezeichneten Menschenschlag zu gehören. Und wenn mit der Begeisterung für den sportlichen Erfolg des eigenen Kollektivs ganz offiziell die Lizenz verbunden ist, sich über die Forderungen sittsamen Betragens im Alltag hinwegzusetzen und hemmungslos parteilich zu sein, dann gibt es für den angestachelten Nationalstolz erst einmal alle Freiheiten, sich so aggressiv in Szene zu setzen und zu betätigen. Vom Gebrauch dieser Geisteshaltung haben freilich exaltierte Fans und die wirklichen Herren und Größen der Sportnation etwas unterschiedliche Vorstellungen. Für die letzteren ist es schon wichtig, dass der Einsatz der nationalen Fanclubs auf dem Feld der sportlichen Ehre nicht in Respektlosigkeiten gegen die Gegner umschlägt. Ohne respektierte Gegner kann eine Mannschaft, auch die nationale, auf den Spielplätzen der Konkurrenz keine Ehre mehr einlegen. So kommen die Verantwortlichen nicht um den Widerspruch herum, die Konsequenzen der Begeisterung zu bremsen, die sie wachrufen und bedienen und derer sie sich so gerne bedienen.
Aber man sieht’s ja: Der Widerspruch macht denen überhaupt nichts aus.
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