“Die von Ihnen vorgetragenen Zahlen sind oft nicht überprüfbar.” Nach den erneuten Forderungen der Bundespolizeibehörden nach einer Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung richtet der Leiter des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz Schleswig-Holstein (ULD), Thilo Weichert, seine Bedenken in einem offenen Brief an deren Vorsitzende.
“Bei der aktuell hitzig diskutierten Frage über die Zukunft der Kriminalitätsbekämpfung im Internet sind Sie Protagonisten für die Sicherheitsbehörden, die sich laut und vehement für eine schnelle und maximale gesetzliche Umsetzung einer sechsmonatigen Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten einsetzen. Sie fordern, die Verpflichtung für Telekommunikationsanbieter umgehend wieder in Kraft zu setzen, die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit Urteil vom 02.03.2010 für nichtig erklärt wurde. Das BVerfG hat, wohl vor allem angesichts der europäischen Vorgaben, diese sechsmonatige Vorratsdatenspeicherung nicht grundsätzlich verworfen, wohl aber deren äußerste verfassungsrechtlichen Grenzen aufgezeigt. Es gehört zu den politischen Gestaltungspflichten, nicht das maximal Mögliche an Grundrechtseinschränkungen vorzusehen, sondern das Nötige und Sinnvolle. Dabei sollte und kann angesichts der Infragestellung auf EU-Ebene im Rahmen der derzeit laufenden Evaluation auch die sechsmonatige Vorratsspeicherpflicht auf EU-Ebene nicht als unabänderbar behandelt werden”, donnert Thilo Weichert den Vorsitzenden der Polizeiverbände sowie dem Präsidenten des Bundeskriminalamtes entgegen.
Weichert erinnert die Ordnungsbehörden daran, dass Grundrechtsschutz und Gefahrenabwehr in einem sinnvollen Verhältnis stehen muss.
“Auch Ihnen dürfte bewusst sein, dass polizeiliches Vorgehen im Internet schnell die Grundrechte auf informationelle Selbstbestimmung, auf Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme, auf Wahrung des Telekommunikationsgeheimnisses und vieler weiterer Grundrechte mit einer digitalen Dimension zerstören können. Hieran kann Ihnen nicht gelegen sein. Dies gebietet es, informationelle Eingriffe und die Erlaubnisse hierzu daran auszurichten, dass diese so gering wie möglich und verhältnismäßig sind. Im Interesse eines rationalen demokratischen Diskurses sollten sich sämtliche relevanten Diskussionspartner hieran orientieren. Leider vermissen wir in der Diskussion zur Vorratsdatenspeicherung bei Ihnen dieses Streben. Ähnlich wie bei der Diskussion um die sog. Online-Durchsuchung erwecken Sie den falschen Eindruck, dass ohne die Verwirklichung einer maximalen Regelung Strafverfolgung im Internet nicht mehr möglich wäre. Die von Ihnen vorgetragenen Zahlen und Argumente sind oft nicht nachvollziehbar und überprüfbar”, maßregelt der Leiter des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz Schleswig-Holstein die Adressaten.
Weichert erinnert an ähnliche, eine offene Gesellschaft schädigende Schritte in der Vergangenheit: “Die Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten ist nicht die erste Maßnahme einer anlasslosen Vorratsdatenverarbeitung für Zwecke der Strafverfolgung, ohne dass es bisher zu einer wissenschaftlichen Evaluation der bestehenden Maßnahmen gekommen wäre, z.B. bei der präventiven Erfassung von Mobilfunkanschlüssen oder der Bereitstellung und Auswertung von Fluggast- oder Finanztransaktionsdaten durch US-Sicherheitsbehörden. Nur eine solche Evaluation unter Berücksichtigung aller relevanten Parameter ermöglicht eine Optimierung zwischen den Zielen der effektiven Strafverfolgung und des effektiven Grundrechtsschutzes. Dabei müssen wir uns in einer offenen Gesellschaft dessen gewahr sein, dass das Streben nach einer hundertprozentigen Sicherheit der Tod aller Freiheit wäre und nicht erfolgreich sein kann.”
Der Brief hat bereits ein weites Echo in der Netzwelt ausgelöst. Zahlreiche Aktive im Bereich des Datenschutzes zeigten sich erfreut über den Brief und bekannten sich solidarisch.
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