Wulff ist gegangen – Gauck kommt – „Staatskrise“ abgewendet

Hier die  Analyse des GegenStandpunkt-Verlags bei Radio Lora München über den sog. ersten Mann im Staat:
Der Neue kommt nicht wegen irgendeines Bedarfs des Volks ins Amt und auch nicht gemäß der Erwartungen der Öffentlichkeit an einen würdigen Repräsentanten. Die Politik bestellt sich einen, den sie für geeignet hält und den sie Volk und Öffentlichkeit dann als passenden Amtsinhaber für Deutschlands höchstes Staatsamt präsentiert.
Worin die demokratische Eignung des Kandidaten besteht, ist in diesem Fall klar wie selten: seinen amtlichen Befähigungsausweis erhält er durch die Berechnungen der um die Macht konkurrierenden Parteien. Die einen profilieren sich, wenn „ihr“ Gauck es jetzt doch schafft, die anderen müssen einknicken, um einen ernsten Koalitionskrach zu vermeiden. Das alles wird von der teilnehmenden Öffentlichkeit auch gar nicht übersehen, sondern im Gegenteil ausführlich besprochen. Sobald die Einigung dann auf dem Tisch ist, wird aus dem Produkt des Parteiengezänks schlagartig das Musterbild von Überparteilichkeit und staatsmännischer Verantwortung. So ist Gauck zu seiner Eignung und zu Amt und Würden gekommen. Das ist demokratisch sachgerecht und diskreditiert weder ihn noch das Amt noch die, die ihn dazu bestimmen. Die Öffentlichkeit goutiert mit kennerischem Interesse die parteipolitischen Winkelzüge und die Intrigenwirtschaft bei seiner Kür und wer da wen über den Tisch gezogen hat.
Allerdings lässt sie es dabei nicht bewenden, sondern liefert ihren eigenen Eignungstest nach.
Dem obersten Stellvertreter der Nation gebührt Verehrung, die soll ihm das Volk auch entgegenbringen. Nur: Damit er sie verdient, hat er als Person auch „integer“ zu sein, d.h. er soll Abbild des Volks sein – so, wie ein gutes Volk eben beschaffen ist. So ein Volk lebt nicht in Luxus und von ungerechtfertigter Vorteilsnahme und es stellt keine unredlichen persönlichen Berechnungen an; es lebt vielmehr redlich, bescheiden und fleißig. Und als solches hat es saubere Politiker verdient, die diese Tugenden, also Anstand, so wie ihn das Volk versteht, auch repräsentieren. Das gilt natürlich ganz besonders für den ersten Mann im Staat, der die oberste Instanz für politische Moral im Lande ist. Der muss gleich in seiner ganzen Art stellvertretend vorleben, dass diejenigen, die das Land führen, selbstlose Diener des Staates und damit ihres Volkes sind und nur ihre Pflicht erfüllen. An so einem Präsidenten wird abgeprüft, ob er die Tugenden verkörpert, die ein Volk von seinen Führern einfordern kann, um ihnen zu vertrauen. Das heißt umgekehrt aber auch: Welche Tugenden ein anständiges Volk an den Tag zu legen hat.
Ist der Neue nun ein würdiges Abbild des moralisch integren Volkes?
Für Bild ist die Sache klar: „… Präsident der Herzen – Jetzt gauckt’s los – endlich bekommen die Deutschen ihren Wunsch-Präsidenten…“ Die Bild-Zeitung hat den falschen Würdenträger aus dem Amt getrieben. Also hat sie, und damit das Volk, sich jetzt den neuen und richtigen erkoren. Als hätte das von deutscher Standortpolitik gebeutelten Volk ausgerechnet auf einen Präsidenten gewartet, der ihm „raus aus der Hängematte der Glückserwartung durch Genuss und Wohlstand“ ins Stammbuch schreibt. Ein Mann, der mit seiner ganzen Biographie als Ex-DDRler dafür steht, dass man dem neuen vereinten richtigen Deutschland gefälligst dankbar zu sein hat für alles, was es einem an freiheitlicher Verarmung und nicht-verstaatlichten Banken beschert, statt sich dauernd zu beschweren. Bild weiß: Gauck ist der Mann des Volkes, genau sein demokratisch-patriarchalisches Abbild. Also das Gegenteil von diesem Wulff, unter dem es das Volk kaum ausgehalten hat.
Die Medien für die klügeren Köpfe im Land jubeln nicht bloß, sondern veranstalten jetzt erst recht die „Deutschland-sucht-den-Super-Präsidenten-Show“. Im Verlauf ihrer Herumkritisiererei an Wulff ist das Anspruchsniveau von Spiegel, SZ & Co enorm gestiegen – und deswegen erscheint das Amt als schier untragbaren Bürde für den neuen Mann:
„Das schwierigste Amt … Die Erwartungen sind fast ins Unermessliche gewachsen… Der Bundespräsident soll eine Art Staatsheiliger sein…“
Aber der neue Mann kriegt erst mal ein Plus: Er ist integer und prinzipienfest, überparteilich, und antikommunistisch und war ja schließlich schon als Chef der Stasiaufdeckungsbehörde ein ausgewiesener Anwalt des freiheitlichen Gemeinschaftsgeistes der neuen Republik. Als Ex-Pfarrer beherrscht er gewiss die „Kraft des Wortes“ wie kein anderer. Und darauf kommt es bei einem Amt ja schließlich an, das die Güte der Macht zur Anschauung bringen soll, ohne selbst Macht auszuüben.
Aber einfach vorsetzen lassen sie ihn sich nun auch wieder nicht. Weil sie ihn nicht vorher prüfen und für gut befinden durften, kommen auch ausnehmend kritische Töne auf. Integer, ja sicher. Aber ist er wirklich der bürgerrechtliche Vorkämpfer gewesen, als der er sich stilisiert? Wortgewaltiger Prediger, ja schon. Aber sind seine Wertevorstellung von Freiheit nicht viel zu unkritisch, wenn er „Finanzmärkte verteidigt“, „für Überwachung der Linken“ eintritt, „gegen Hartz?IV- und Stuttgart?21-Proteste“ anredet, „Occupy einfach albern“, findet und „auch soziale Gerechtigkeit nicht sein Lieblingsthema“ ist? Fehlt da nicht die kritische Distanz zu der einen oder anderen bedauerlichen Erscheinung im Lande. Das Bedauern über die unvermeidlichen Härten des politischen Geschäfts gehört schließlich auch zum Präsidentenamt, und die passenden Ermahnungen an die politisch Zuständigen, sich fürsorglich darum zu kümmern, dürfen nicht fehlen.
Aber andererseits: Übt er nicht viel zu viel kritische Distanz gegenüber unserem Staat? Ist sein Begriff von Freiheit nicht zu sehr von der DDR-Erfahrung geprägt und nicht zu einseitig gegen staatliche Bevormundung gerichtet? Redet er mit seinen pastoralen Predigten die Härten und Ungemütlichkeiten des politischen Getriebes, ohne die verantwortliche Politik nun einmal nicht geht, nicht schlecht? Schwingt er sich also nicht zum überheblichen Richter über das praktische politische Geschäft der Macht auf – wo er das mit verständnisvollen Mahnungen nicht herabsetzen, sondern moralisch ins Recht setzen soll? Da drohen fatale Folgen: Womöglich „verstärkt“ Gauck „Politikverdrossenheit , wenn er „Politik als schmutziges Geschäft“ denunziert und damit einer „Krankheit des politischen Idealismus“ verfällt.
Staatsmännisch besorgter als die Machthaber, die sich bei der Kür ganz andere Gedanken gemacht haben, kümmern sich die einschlägigen Kommentare also noch einmal ausgiebig um das Amt und seine Besetzung. Gerade so, als käme Deutschland spätestens jetzt auf keinen Fall mehr ohne den genau richtigen präsidialen Schönredner aus. So erklären uns diese Kommentare ein weiteres Mal, was dieses Land braucht. Einen politischen Sonntagsprediger, der glaubwürdig den Schein erweckt, dass nicht Staats- und Parteiinteressen die Leitlinien vorgeben, sondern dass Politik vielmehr einen staatsgemeinschaftlichen Wertekanon abarbeitet, der ihr vorgegeben ist und um den sie beständig ringt. Unvollkommen natürlich, wie die Welt vom Standpunkt der Moral ja immer ist, aber andauernd strebend bemüht Der richtige Mann im Präsidentenamt braucht viel kritisches Verständnis für die unschönen Härten und Notwendigkeiten der Politik, die recht verstandene Staatsverantwortung nun einmal gebietet. Und er hat sich mit der genau richtigen Mischung von Nähe und Distanz zum politischen Alltagsgeschäft um den fehlenden sittlichen Gemeinschaftsgeist oben und die ewig bedrohliche „Politikverdrossenheit“ unten zu kümmern.
Soviel Parteinahme für eine zugleich volkstümliche und geistvolle, oben wie unten zufriedenstellende Staatspropaganda im Amt wie anlässlich des doppelten demokratischen Präsidentenzirkus hat das Land noch nicht erlebt. Zwischenzeitlich war sogar die Rede von einer „Staatskrise“. Da lachen ja die Hühner.

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