Die 'Macht des Faktischen' als Argument – diesmal am Beispiel Griechenlands

Über die Fortschritte der Verelendung weiter Teile der griechischen Bevölkerung im Zuge der europäischen Krisenbewältigung wird man in der hiesigen Öffentlichkeit ausgiebig auf dem Laufenden gehalten, und Mitgefühl für die Nöte der dortigen Bevölkerung ist durchaus auch am Platz.
Zu dem Verarmungsprogramm, das die griechische Politik unter tatkräftiger Anleitung der einschlägigen Finanzmächte den weniger bemittelten Bürgern Griechenlands antut, hat sich die Organisation Attac unlängst zu Wort gemeldet. Sie rechnet der so genannten „Troika“, insbesondere der Merkel-Administration, sowie dem IWF vor, dass es ihnen gar nicht darum ginge, die „griechische Bevölkerung“ zu retten – gerettet würde vielmehr nur der Finanzsektor. Mehr als die Hälfte der bewilligten Gelder wurde verwendet für die Aufstockung des Eigenkapitals griechischer Banken, für die Rückzahlung auslaufender Staatsanleihen und für den Rückkauf alter Schulden. Selbst von den knapp 47 Mrd. Euro, die tatsächlich im griechischen Staatshaushalt angekommen sind, ist der allergrößte Teil umgehend als Zinszahlungen an die Besitzer von Staatsanleihen geflossen. Zusammenfassend klagt Attac an: „Unsere Regierungen retten Europas Banken und Reiche!“ Die Rechnung müsse die griechische Bevölkerung bezahlen in Form „einer brutalen Kürzungspolitik, mit den bekannten katastrophalen sozialen Folgen.“ Kurz: Von „Hilfe“ könne nicht die Rede sein.
Falsch!, sagt die Süddeutsche Zeitung und erklärt Attac, warum die Rettung der Banken bzw. der dort vorhandenen Vermögen die einzig mögliche Hilfe, also alternativlos sei. Mitleid mit den Griechen gut und schön, aber man müsse realistische denken, nämlich so wie die Experten von Troika und IWF. Da genügt schon eine ganz einfache Überlegung:
„Was wäre eigentlich passiert, wenn die Staatengemeinschaft der Regierung in Athen 2010 nicht zur Hilfe geeilt wäre?“ (SZ, 17.6.13)
Die Staatengemeinschaft ist der Regierung zur Hilfe geeilt, um großen Schaden abzuwenden: Binnen weniger Wochen wäre die Regierung zahlungsunfähig geworden. Das musste verhindert werden, um den eigentlichen, den ganz großen Schaden abzuwenden. Die Süddeutsche erklärt den Griechen in den Worten der Experten, worin die wirklich „dramatischen Konsequenzen“ für sie bestanden hätten: „Die Banken wären schlicht kollabiert“, dann wären die Einlagen der Bürger nicht mehr sicher gewesen, was man insbesondere den reichen Bürgern nicht zumuten konnte, und die Unternehmer wären nicht mehr an dringend notwendige Investitionskredite gekommen. Zusammengefasst: „Ohne funktionsfähige Banken ist eine moderne Volkswirtschaft nicht funktionsfähig“, also sind es die Banken, die der Hilfe am dringendsten bedürfen. Der Organisation Attac wird also das, was sie anklagt, wie ein Argument entgegengehalten: An der Rettung der Banken führt einfach kein Weg vorbei. Oder anders: Die Verhältnisse, die in die Scheiße geführt haben, müssen unbedingt erhalten werden, und dem haben sich die Griechen unterzuordnen, ja, dafür zu sein. Was wie ein Argument daherkommt, ist in Wahrheit die Auskunft, dass die Griechen in dem ganzen Getriebe nur als Material vorgesehen sind: Entweder ihr verarmt gleich und schlagartig oder ihr lasst die Verarmung an euch durchziehen, die wir zur Rettung der Banken für notwendig erachten. Alles, was den Griechen bleibt, ist ein Trostpflaster: „Mittelbar“, also vermittelt über eine Bankenrettung, sofern sie denn gelingt, könnte es sein, dass ein Licht am Ende des Tunnels auftaucht: „Mittelbar nutzen die Milliarden für die Banken-Rekapitalisierung demnach auch dem einfachen Bürger.“
So ist das also?! Wenn die Geschäfte von Banken und anderen in- und ausländischen Finanzinvestoren nicht zu deren Zufriedenheit aufgehen, sieht es ganz furchtbar aus in einer kapitalistischen Nation. Mit allen Erwerbsquellen der „einfachen Bürger“ schiebt sich gleich gar nichts mehr, ihren Lebensunterhalt und ihre Ersparnisse sowieso können sie vergessen, wenn eine „Volkswirtschaft“ von den Geldbesitzern nicht als Gewinn bringende Anlagesphäre ihres Kapitals ins Auge gefasst wird. Und wenn diese schließlich über eine Staatsgewalt insgesamt das spekulative Urteil fällen, dass sie ihre Gesellschaft nicht in genügendem Maße zur Geldquelle gemacht hat und ihr den Kredit entziehen, ist es mit der ganzen, schönen „modernen Volkswirtschaft“ auf einem Schlag vorbei. Der gesamte Lebensprozess einer kapitalistischen Gesellschaft ist vollständig Anhängsel und Produkt der privaten Gewinnrechnung potenter Finanzunternehmen. Und er wird storniert, wenn deren Geschäftskalkulationen sich ändern oder in die Binsen gehen.
Hat man diese totale Abhängigkeit erst einmal unterschrieben, erscheinen die Milliarden für die Bankenrettung glatt wie ein Geschenk an die „einfachen Bürger“, denen ansonsten ja der Totalausfall ihrer gesamten Lebensbedingungen drohen würde. Weil ihr ganzes Dasein von der Bereicherung der Reichen abhängt, sollen sie sich für das Gelingen dieser Bereicherung stark machen. Die Schäden, die ihnen bereitet werden, damit die Profite der Kapitalisten und die Kreditvergabe der Finanzinstitute wieder in Gang kommen, sollen sie dann geradezu als Wohltat für sich begreifen. So werden aus den Opfern die eigentlichen Nutznießer ihrer eigenen Verarmung.
Der einsichtige Grieche lerne also: Je größer die Beschädigung seiner Interessen im Dienste von Staatshaushalts- und Bankenrettung ausfällt, desto mehr sollte er für deren Erfolg Partei ergreifen – und zwar gegen sich. Denn Opfer sind ja so oder so fällig für den, der zum Anhängsel dieser Sorte Bereicherung gemacht worden ist. Ohne die wäre er sonst gleich komplett aufgeschmissen. Und weil das so ist, ist es völlig abseitig, etwas dagegen zu haben – sagen alle Experten.

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