Der Bundesverband Deutsche Tafel präsentiert: Gute Werke, die die Pflichtvergessenheit der Herrschaft offenlegen

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Da gibt es das marktwirtschaftliche Phänomen, dass Lebensmittel zwar im Überfluss vorhanden, aber zum Verkaufen da sind, weshalb alle diejenigen, die sich das Essen nicht leisten können, hungern müssen. Da hat der Bundesverband Deutsche Tafel (BDT) eine bestechende Idee für ein gutes Werk: Er sammelt auf der einen Seite Lebensmittel ein, die zum Wegwerfen bestimmt sind, weil mit ihnen kein Geld (mehr) zu verdienen geht, deren Eigentümer aber bereit sind, sie zu spenden, weil das ihr Geschäft nicht schädigt, und so können diese Lebensmittel auf der anderen Seite an Bedürftige verteilt werden. Das tut der Verband seit 1993 – und verzeichnet seitdem nicht nur ein stetes Wachstum der Nachfrage, so dass er heute mit mehr als 900 Tafeln bundesweit regelmäßig über 1,5 Millionen Bedürftige versorgt; auch hinsichtlich des sozialen Charakters ist sein Empfängerkreis deutlich bunter geworden: Waren anfangs noch Obdachlose die Hauptabnehmer, so sind es inzwischen z.B. Sozialhilfe-Empfänger, Alleinerziehende, Studenten, Beschäftigte, Flüchtlinge und, nicht zuletzt, viele viele Kinder.

Die Arbeit geht dem Bundesverband Deutsche Tafel also absehbarerweise nicht aus – aber eine Gefahr bei der flächendeckend organisierten Mildtätigkeit entdeckt sein Vorsitzender Jochen Brühl schon:

Die Politik darf sich nicht auf dem Engagement der Zivilgesellschaft ausruhen.“ (SZ, 27.05.)

Offenbar tut sie es. Denn die Politik, also der Staat, herrscht der Gesellschaft eine Wirtschaftsweise auf, in der ein Bedürfnis nur dann zum Zuge kommt, wenn es zahlungsfähig ist – und wenn sich da notwendigerweise viele Arme ansammeln, „ruht“ sich der Staat , in der Sprache des Bundesverbandes, „aus“, hält der Staat es nämlich für eine sehr begrüßenswerte Sache, wenn sich da private Mildtätigkeit regt und sich der Armen annimmt. Irgendeinen Widerspruch zu seiner Wirtschaftsweise kann er darin nicht entdecken, denn solche aus persönlichen Beweggründen zustande gebrachten Hilfsdienste sind und bleiben die Ausnahme von der Regel, ändern also überhaupt nichts an dem Prinzip, dass für alles Benötigte bezahlt werden muss. Sie entlasten aber den Staat ein Stück weit von Kosten und Aufwand der Verwaltung verelendeter Volksteile. Die Tugend braver Bürger, angesichts der ständig anfallenden gesellschaftlichen ,Missstände‘ Privatinitiative zu ergreifen und ehrenamtliches Engagement zu zeigen, wird deshalb von oberster Stelle belobigt, z.B. mit Verdienstorden des Bundespräsidenten oder Schirmherrschaft der Kanzlerin für Hilfevereine. Wenn der Bundesverband Deutsche Tafel nun mahnt, „die Politik darf sich nicht auf dem Engagement der Zivilgesellschaft ausruhen“, dannweiß er um diesen zynischen Umgang der Politik mit der privaten Mildtätigkeit; er durchschaut die Funktionalisierung von Vereinen wie dem seinen für die Entlastung des Staatshaushalts von Almosen für die Armut, wenn er die Obrigkeit anklagt, dass sie sich auf dem ehrenamtlichen Engagement „ausruhen“ würde.

Das ist das eine. Das andere ist der Standpunkt, den der Bundesverband damit dem Staat gegenüber an den Tag legt. Wenn er sagt, der Staat darf sich nicht auf dem Engagement der Zivilgesellschaft ausruhen“, dann bringt er damit seine unerschütterlich gute Meinung über den Staat, gerade indem er ihm ein bisschen am Zeug flickt, zum Ausdruck: Er ist sich sicher, dass der Staat eigentlich damit beauftragt wäre, die „Ursachen von Armut“ zu bekämpfen und eine soziale „Verantwortung und Fürsorgepflicht“ zu praktizieren, aus der sie sich nicht stehlen dürfe. Der negative Befund über die wirkliche Praxis des Regierens, zu dem der Bundesverband selber gelangt; sein eigenes Bewusstsein davon, dass Vereine wie er selbst gerne als nützliche Idioten billiger Armutsbetreuung funktionalisiert werden, widerspricht zwar diesem der Staatsgewalt zugesprochenen sozialen Auftrag ziemlich fundamental; und man kann dem auch entnehmen, dass der Staat seine Macht ganz anderen Dingen widmet. Das hält der Verband aber überhaupt nicht für einen Einwand gegen seinen Maßstab, an dem er den Staat misst. Er hält vielmehr stur an seiner guten Meinung vom Staat fest und will an der praktizierten Politik nur entdecken, dass sie sich an dem vergeht, was sie eigentlich zu tun hätte. Der Bundesverband Deutsche Tafel hat also ein idealistisches Bild von Herrschaft: Er zeichnet diese als ,Bekämpfer‘ von Armut :

Die Tafeln können Armut nur lindern, aber nicht ihre Ursachen bekämpfen. Das ist Aufgabe des Sozialstaates.“ (Vorsitzender Brühl, Pressemitteilung 26.05.)

Was die privat organisierte Mildtätigkeit nicht leisten kann, nämlich „die Ursachen bekämpfen“, läge nach Meinung des Bundesverbandes in der Macht des Staates, da diese so ungleich viel nachhaltiger auf gesellschaftliche Verhältnisse einwirkt als es die eigene Mildtätigkeit je vermag. Dass der Staat das nicht tut, führt beim Bundesverband aber nie und nimmer zu dem Schluss, dass Armut dann möglicherweise das Resultat staatlichen Wirkens ist. In dem idealistischen Bild vom ,Sozialstaat‘ steht der menschenfreundliche Auftrag für diese Machtinstanz über bürgerliche Lebensbedingungen für den Bundesverband felsenfest, und er erklärt sich die Tatsache, dass sich immer mehr Menschen um seine Tafeln drängeln, ganz aus der Verantwortungs- und Tatenlosigkeit der Obrigkeit. In der Anklage der praktizierten Politik, der er nicht genug Schlechtes nachzusagen weiß, drückt er sein fundamentales Vertrauen in den Staat und dessen ,eigentliche‘ Ziele und Zwecke aus.

Das hat – außer dem Verteilen von Lebensmitteln – genau eine praktische Konsequenz. Nicht für die Ausübung der Staatsgewalt, aber für das Aufgabenspektrum und das Auftreten des Bundesverband Deutsche Tafel. Arme werden nicht mehr bloß gefüttert, sondern sorgfältig gezählt und katalogisiert. Wofür ist das gut? Hilft das den Armen? Aber ja – wenngleich auf einem etwas verschlungenen Weg. Mit diesem Material kann der Verband nämlich seiner Obrigkeit als ihr schlechtes Gewissen und sie belehrende Instanz gegenübertreten:

Wir erleben, dass Armut und Armutsbedrohung weiter in der Gesellschaft verbreitet sind als die Bundesregierung in ihrem Armuts- und Reichtumsbericht vermittelt… Die Tafeln sind eine Kompassnadel für gesellschaftliche Entwicklungen. Bei uns wird die Not der Menschen sichtbar. … Die Politik darf hier nicht einfach wegsehen.“ (Ebd.)

Was ist der tiefere Sinn dieses mühsam erarbeiteten anklagenden Appells? Da bescheinigt man einer Instanz, Armut zu beschönigen oder „einfach wegzusehen“, und was hilft dagegen? Man hält dieser Instanz noch drastischere Armutszahlen und die Aufdeckung vielfältiger gesellschaftlicher Fehlentwicklungen öffentlich entgegen. Das kann nur für jemanden Sinn machen, der auf den unbezweifelbar guten Auftrag der Herrschaft deuten will, den er gerade dadurch für erwiesen hält, weil er er von der Obrigkeit mal wieder nicht verwirklicht worden ist.

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