Zum Tod des Regisseurs Theo Angelopoulos (1935-2012)

ein Nachruf von Paul Kleiser aus der aktuellen SoZ

Am 24. Januar 2012 wurde der griechische Filmregisseur Theodoros Angelopoulos bei den Dreharbeiten zu seinem neuen Film „Das andere Meer“, in dem er sich auch mit den Folgen der Finanzkrise für Griechenland auseinandersetzen wollte, beim Überqueren der Straße in Piräus von einem Motorrad erfasst. Er starb ein paar Stunden später im Krankenhaus. Er wurde 76 Jahre alt. Das Land verliert mit ihm seinen größten Filmemacher und das europäische Kino einen der bedeutendsten zeitgenössischen Regisseure. In einem guten Dutzend Langfilmen setzte er sich mit der griechischen und europäischen Geschichte und deren Brüchen und Katastrophen auseinander. Gleichzeitig war seine Art des Filmemachens, des genauen Komponierens und der langen, intensiven Kamerafahrten, selbst schon ein Akt des Innehaltens, der Verweigerung und des Widerstandes gegen die immer rasender werdenden globalen Bilderfluten.

Nach nicht abgeschlossenen Studien in Athen und Paris drehte Angelopoulos 1970, zur Zeit der Militärdiktatur, seinen ersten Spielfilm, „Die Rekonstruktion“. Ein „Gastarbeiter“ kommt aus Deutschland in sein abgelegenes Dorf zurück, findet dort seine Frau mit einem Liebhaber und bringt diesen um. Solche Geschichten gibt es im Kino zuhauf; die bedeutendste Version dieses Themas, „Ossessione“, wurde 1950 von Luchino Visconti gedreht, dessen frühe Filme auch als Vorbild für „Rekonstruktion“ gelten können. Das eigentliche Thema ist die (reale und mentale) Abgeschlossenheit des Dorfes, das im Schweigen zusammenhält und sich gegen eine feindliche Stadt (die Polizei, die Presse, die Regierung) zur Wehr setzt, was auch immer geschieht. Tatsächlich handelt es sich bei dieser anti-etatistischen Haltung um einen Grundzug der griechischen Geschichte bis heute.

Bereits der zweite Film, „Die Tage von 36“, beschäftigt sich mit der Diktatur und es war schon ein Glücksfall, dass er im Griechenland der Obristen gedreht werden konnte. Es geht um den Militärputsch des rechten Generals und Faschistenfreundes Ioannis Metaxas von 1936, der einen Polizeistaat nach italienischem Vorbild errichtete. Der Film beginnt mit einer Massenveranstaltung, auf der ein Gewerkschaftsführer reden soll; zu Beginn der Rede wird er niedergeschossen. Der frühere Mitarbeiter der Polizei, Sofianos, der inzwischen die Seiten gewechselt hat, wird des Mordes verdächtigt und ins Gefängnis gebracht. Dort gelingt es ihm, einen ihn besuchenden konservativen Abgeordneten als Geisel zu nehmen, wodurch eine tiefgreifende politische Krise ausgelöst wird. Entweder verlassen die Liberalen oder die Konservativen die Regierung – daher die gewaltsame „Lösung“ durch den Militärputsch und die Ermordung des Häftlings. Angelopoulos filmt aus der Sicht des Volkes (häufig durch das Gefängnisgitter!), also sieht man die Politiker kommen und gehen, doch ihre Verhandlungen werden in den entscheidenden Momenten durch Geräusche der Straße, Motoren- und Fluglärm etc. überdeckt. Man kann nicht hören, sondern muss sehen, was geschieht.

Auch Angelopoulos’ weitere Filme beschäftigen sich mit der modernen griechischen Geschichte und ihren Brüchen. Die „Wanderschauspieler“ (O Thiasos) sind eine um eine Familie herum gruppierte Schauspieltruppe, die von Ort zu Ort durchs Land zieht und das bekannte griechische Volksstück „Golfo, die Schäferin“ aufzuführen versucht. Es ist eine Art Reise durch Raum und Zeit mit zahlreichen Verweisen auf das klassische griechische Drama. 1939 weilt die Truppe gerade in Aigion bei Patras, wo alles für den Besuch von Reichspropagandaminister Goeppels vorbereitet wird, der auf seinem Weg nach Olympia hier durchkommen soll. Die Situation der Gruppe ist spannungsgeladen, denn in ihr gibt es Befürworter und Gegner des Faschismus sowie Opportunisten. Der die Schauspieler anführende Vater berichtet von seiner Flucht aus Kleinasien 1922, als die Türken die griechischen Gebiete um Smyrna (Izmir) überrannten. Als die Truppe im nächsten Ort ankommt, feiert man (es ist Oktober 1940) gerade den Kriegseintritt des Landes gegen Italien und die Truppe widmet ihre Aufführung den Soldaten an der Front. Ein Bombenangriff der Italiener zwingt zur Aufgabe der Vorstellung. Der Vater meldet sich zur Armee und wird von einem Kommando der Wehrmacht erschossen, weil er einen Verbindungsmann der Engländer zu den in den Bergen kämpfenden Partisanen gedeckt hat. (Bekanntlich haben die Partisanen den Italienern und der Wehrmacht erhebliche Verluste zugefügt, so dass es zu äußerst brutalen Vergeltungsmaßnahmen, etwa in Kalavrita oder Distomo, gekommen ist.) 1944 soll die ganze Truppe von der sich auf dem Rückzug befindlichen Wehrmacht an die Wand gestellt werden, doch ein Partisanenangriff rettet ihnen das Leben. Ab 1944 finden unter den Bedingungen einer Hungersnot Demonstrationen für die wieder erkämpfte Demokratie statt, doch bald schon richten die Briten sich als neue Besatzungsmacht ein; der Bürgerkrieg beginnt, Athen wird von den Briten bombardiert. In den Kämpfen zwischen Linken und Rechten finden zahlreiche Rachemorde und Massaker statt. Angelopoulos verknüpft auf dem Hintergrund einer gewalttätigen Geschichte zahlreiche Episoden der schauspielernden Familie mit ihren Ausbrüchen von Liebe, Hass und Leidenschaft zu einem ungemein beeindruckenden Gesamtbild. Gleichzeitig reflektiert er über die Möglichkeiten des Mediums Film, geschichtliche Themen kritisch darzustellen.

Den nächste Film, „Die Jäger“ (I Kynighi), drehte Angelopoulos nach dem Sturz der Obristenherrschaft 1974. Er schließt gewissermaßen an den vorherigen an und reflektiert die Verdrängungsmechanismen der „normalen“ bürgerlichen Gesellschaft. Filmische Vorbilder dürften Jean Renoirs „Spielregel“ (La règle du jeu) und Luis Bunuels „Würgeengel“ (El angel exterminador) gewesen sein. Es treffen sich ein Redakteur, ein Großindustrieller, ein Unternehmer und früherer Kommunist, ein Oberst im Ruhestand und ein früherer rechter Politiker bei ihrem Freund, dem Hotelier Savas (türkisch = Krieg) zur Wildschweinjagd im winterlichen Epiros-Gebirge. Diese betuchte Jagdgesellschaft findet auf einem Jagdausflug in den Schnee die Leiche eines Partisanen aus dem Jahr 1949. Doch das Blut ist noch frisch und die Jäger daher perplex: „Diese Geschichte von 1949 ist doch abgeschlossen!“ meinen sie. Sie bringen die Leiche ins Hotel, wo schon alles für die Neujahrsfeier 1977 vorbereitet ist. Eigentlich möchten sie die Leiche verschwinden lassen, doch Savas ruft schließlich die Polizei, die sich jedoch für nicht zuständig erklärt und wieder abreist. Wir sehen Demonstrationen und den Wahlkampf von 1964, als Papandreou (der Großvater des heutigen Chefs der PASOK) für die liberale Zentrumsunion die Wahlen gewann. Die Jäger treffen sich mit dem früheren Chef der Hatz auf die Kommunisten nach 1945. Im Umkreis der Regierungsbildung kommt es zu Massendemonstrationen für die Demokratie und gegen den Faschismus. Gleichzeitig organisieren sich die Kräfte der Rechten, bringen führende Gegner um und bereiten den Putsch von 1967 vor. Es gibt wenige Filme, die die Brutalität und Verdrängungskünste der Herrschenden und ihre Verachtung des Volkes so klar herausarbeiten wie „Die Jäger“.

Im Jahr 1980 drehte Angelopoulos „Der große Alexander“ (O Megalexandros), der häufig als Abgesang auf den Stalinismus oder gar den Marxismus interpretiert worden ist – vor allem von Leuten, die wenig Ahnung von der griechischen Geschichte haben. Für mich ist „Der große Alexander“ sein originellstes und bedeutendstes Werk.

Im Athener Königspalast wird gerade Silvester 1900 gefeiert, als aus dem Gefängnis auf der Insel Syros Gefangene ausbrechen, die sich um einen auf einem Schimmel reitenden Anführer scharen, der sich ganz unbescheiden „Der große Alexander“ nennt und auch entsprechend drapiert. Es handelt sich um eine Gruppe von „Kleften“ (Dieben), wie es sie in Zeiten der osmanischen Fremdherrschaft fast überall auf dem Balkan gab und die im griechischen Befreiungskampf als Bewaffnete eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben. Sie nahmen den Steuereintreibern wieder einen Teil ihrer „Beute“ ab und verteilten sie – natürlich nicht ohne einen beträchtlichen Eigenanteil abgezweigt zu haben – an die bäuerliche Bevölkerung zurück.

Die Gruppe um „Alexander“ reitet auf den Tempel am Kap Sounion zu, wo eine Gruppe von britischen Adeligen neben dem berühmten Sonnenaufgang auch den Anbruch des 20. Jahrhundert feiern möchte. Die Briten werden von der Ausbrechergruppe entführt und Alexander schreibt an die Regierung: „Sollten Eure Gnaden zu vermitteln belieben, dass die Felder im Tal ihren Besitzern zurückerstattet werden und eine Amnestie gewährt wird, mir und meinen Leuten und all jenen, die eingesperrt wurden dafür, dass wir die Rechte erzwungen haben, die uns die Gutsherren verweigerten, dann werden wir die Lords und die Damen freilassen.“

Alexander bringt die Gruppe in sein genauso malerisches wie archaisches Dorf in den Bergen im Norden Griechenlands. Die Regierung, die von London unter Druck gesetzt wird, ist bereit, ein Lösegeld zahlen, lehnt jedoch eine Amnestie ab. Auch von der Polizei verfolgte italienische Anarchisten treffen im Dorf ein. Sie haben vom dortigen Lehrer gehört, der versucht, aus dem Dorf eine Art Musterkommune mit Gemeineigentum zu machen. Die Idee vom Gemeineigentum behagt den Kleften jedoch ganz und gar nicht.

Alexander begibt sich in sein Haus, wo seine Stiefschwester, die auch seine Stieftochter ist, auf ihn wartet. Im Zimmer hängt ein Brautkleid mit einem eingetrockneten Blutfleck an der Stelle des Herzens.

Die Auseinandersetzungen zwischen den Kleften, der Bevölkerung, die ihr Land zurückbekommen soll, und der Regierung eskalieren. Alexander entwickelt sich zu einer Art Kleindespot und es kommt zu einem Aufstand gegen ihn. Er greift zum Mittel des Terrors und lässt nacheinander alle Gegner und auch die Briten umbringen. Dies ist das Fanal zum Angriff der Armee; in einem magischen Bild, das seinesgleichen sucht, wird Alexander vom Volk verschlungen. Zurück bleibt nur sein Helm.

Mit „Die Reise nach Kithera“ (1982-84) und vor allem „Der Bienenzüchter“ (1986, mit Marcello Mastroianni) begann Angelopoulos eine neue Episode seines Schaffens, in der eher einzelne Charaktere im Mittelepunkt stehen. Der Regisseur greift bei der Besetzung der zentralen Männerrollen auf internationale Schauspieler zurück. Der frühere Lehrer Spiros möchte wie sein Vater und Großvater mit seinen Bienen der „Straße des Frühlings“ folgen. Die Tochter hat geheiratet (der unendliche Regen unterstreicht die Gefühle des Abschieds) und der Sohn geht zum Studium nach Athen. So ist Spiros allein mit seiner Vergangenheit und seinen (häufig traumatischen) Erinnerungen. Nach einer heftigen Liebschaft mit einer jungen Frau beendet er sein Leben in einem Bienenschwarm.

Angelopoulos’ bedeutendsten Filme aus den 1990er Jahren waren „Der Blick des Odysseus“ (1995, mit Harvey Keitel) und „Die Ewigkeit und ein Tag“ (1998, mit Bruno Ganz), für den er in Cannes die „Goldene Palme“ bekam. In „Blick des Odysseus“ filmt der Regisseur eine Reise durch den Balkan auf der Suche nach verschollenen Filmrollen des ersten griechischen Filmregisseurs, die im belagerten Sarajevo endet. Die Stadt liegt in einem undurchdringlichen Nebel, durch den Schüssen von Snipern peitschen. Das Kino ist von Bomben getroffen und dient als wenig einladender Aufwärmort. Ein Schiff auf der Donau transportiert eine monumentale Lenin-Statue aus Granit. Der Film verbindet die Ereignisse von 1914 mit den Zerfallskriegen des früheren Jugoslawien.

In „Die Ewigkeit und ein Tag“ verabschiedet sich der von Bruno Ganz gespielte Dichter von seinen Freunden, um ins Krankenhaus zu gehen, wo er wohl an seiner Krebserkrankung sterben wird. Zufällig trifft er einen sich illegal in Griechenland aufhaltenden Jungen, der von einer Bande geschnappt wird, die Kinder an reiche Griechen verhökert. Dies geschieht in einer baufälligen Baracke unweit einer Durchgangsstraße. Auf unnachahmliche Weise filmt Angelopoulos in einer Art film noir die Enge und Bedrohung der „Illegalen“ und wie sie von kriminellen Banden ausgenützt werden. Der Protagonist bringt den Jungen im Auto an die verschneite Grenze (wohl Albanien). Die Grenzbefestigungen sehen aus wie ein KZ; in den Drähten hängen Menschen – ein surreales Bild voll poetischer Wahrheit. Der Dichter flüchtet mit dem Jungen nach Süden, wo er in einer Art Halluszination Bilder aus der Geschichte von Literatur und Theater erfährt: Ein Italiener trägt seine Oden auf Griechenland vor und fährt dann in einem Pferdewagen des 19. Jahrhunderts von dannen. Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen zu einer Art Traumbild der Hoffnung einer möglichen besseren Zukunft.

In den Jahren nach 2000 arbeitete Angelopoulos an seiner „Die Erde weint“-Trilogie, die die Vertreibung der Griechen aus Kleinasien zum Thema hat.

Es ist dem Göttinger Unternehmen Kairosfilm zu verdanken, dass gerade eine Box mit sechs Filmen von Theo Angelopoulos veröffentlicht wurde. Außerdem gibt es dort O Megalexandros und der Blick des Odysseus ebenfalls auf DVD.

Paul B. Kleiser

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