Rettung vor den Rettern: Griechenland als Experimentierfeld für die Zerstörung von Gesellschaftlichkeit.

Ein Aufruf aus dem Medico-Rundschreiben 01/2012:
In eben dem Moment, in dem jeder zweite jugendliche Grieche arbeitslos ist, in dem 25.000 Obdachlose durch die Straßen von Athen irren, in dem 30% der Bevölkerung unter die Armutsschwelle gefallen sind, in dem Tausende von Familien dazu gezwungen sind, ihre Kinder zur Arbeit zu schicken, damit sie nicht vor Hunger und Kälte sterben, in dem die neuen Armen und die Flüchtlinge sich auf den öffentlichen Müllhalden um die Abfälle streiten – in eben diesem Moment zwingen die „Retter“ Griechenlands unter dem Vorwand, dass die Griechen „sich nicht hinreichend Mühe geben“, diesem Land einen neuen Hilfeplan auf, der die verabreichte tödliche Dosis noch einmal verdoppelt.
Das Ziel dieser Operation kann gar nicht die „Rettung“ Griechenlands sein: Es geht darum Zeit zu gewinnen, um die Gläubiger zu retten, während zugleich das Land in einen zeitverschobenen Konkurs getrieben wird. Und es geht vor allem darum, aus Griechenland – mit der aktiven Kollaboration seiner herrschenden Klasse – das Laboratorium einer gesellschaftlichen Veränderung zu machen, die dann in einem zweiten Schritt auf ganz Europa verallgemeinert werden wird. Das auf dem Rücken der Griechen experimentierte Modell ist das einer Gesellschaft ohne öffentliche Dienste, in der die Schulen, die Kliniken und die Abgabestellen für Medikamente zu Ruinen verfallen, in der Gesundheit zu einem Privileg der Reichen wird (…).
Damit diese Offensive des Neoliberalismus aber ihre Ziele erreichen kann, muss ein Regime eingesetzt werden, dass die elementarsten demokratischen Rechte schlichtweg einspart. Wir müssen zusehen, wie in Europa auf Anweisung der Retter Regierungen von Technokraten gebildet werden, die sich einen Dreck um die Volkssouveränität kehren. (…)
Zugleich bereitet die Europäische Union die Einrichtung eines Sperrkontos vor, auf das die Hilfen für Griechenland direkt überwiesen werden sollen, so dass sie einzig und allein für den Schuldendienst eingesetzt werden. Die Einkünfte des Landes sollen mit „absoluter Priorität“ für die Rückzahlungen an die Gläubiger eingesetzt werden und nötigenfalls direkt auf dieses von der Europäischen Union verwaltete Konto überwiesen werden. Das Abkommen legt fest, dass jede neue Schuldverschreibung, die in seinem Rahmen aufgelegt wird, dem englischen Recht unterliegt, das materielle Garantien vorsieht, und dass alle Streitfragen von den Gerichten in Luxemburg entschieden werden sollen, da Griechenland auf jeden Einspruch gegen von den Gläubigern beschlossene Pfändungen im Vorhinein verzichtet hat. Um das Bild abzurunden, werden auch noch die auferlegten Privatisierungen einer von der Troika verwalteten Kasse übertragen, bei der die Eigentumstitel der öffentlichen Güter deponiert werden. Kurzum, es geht um eine ganz allgemein durchgeführte Plünderung, also um den eigentümlichen Zug des Finanzkapitalismus, der sich hier eine schöne institutionelle Bestätigung leistet. In dem Maße, wie hier dann Käufer und Verkäufer auf derselben Seite des Tisches sitzen werden, kann es keinen Zweifel daran geben, dass dieses Privatisierungsunternehmen sich zu einem wahren Festmahl für diejenigen (seien es nun Griechen oder Ausländer) entwickeln wird, welche die öffentlichen Unternehmen übernehmen.
Nun haben alle bisher ergriffenen Maßnahmen nur zu dem Ergebnis geführt, dass der griechische Staat immer tiefer in seinen Schulden versunken ist und dass die griechische Staatsschuld – mit der Hilfe der Retter, die Geld gegen Wucherzinsen verleihen – geradezu explodiert ist und sich jetzt im freien Fall den 170% des BIP annähert, obwohl sie doch 2009 nur bei 120% lag. Es können Wetten darauf abgeschlossen werden, dass diese ganze Schar von Rettungsplänen – die jedesmal als die „allerletzten“ dargestellt werden – kein anderes Ziel verfolgt, als die Position Griechenlands immer weiter zu schwächen. (…) Die künstlich herbeigeführte Verschärfung des Verschuldungsproblems ist so eine Waffe, um eine ganze Gesellschaft im Sturmangriff zu erobern. (…)
Angesichts dieses organisiert vorgetragenen Angriffs auf die Gesellschaft und angesichts der Zerstörung der letzten Inseln der Demokratie, rufen wir unsere Mitbürger, unsere französischen und europäischen Freunde dazu auf, laut und deutlich ihre Stimme zu erheben. Den Experten und den Politikern darf nicht das Monopol des Wortes überlassen werden. Kann uns denn die Tatsache gleichgültig lassen, dass auf Verlangen insbesondere der deutschen und französischen Staatsführung den Griechen in Zukunft freie Wahlen verboten werden sollen? Verlangt die systematische Stigmatisierung und Verleumdung eines europäischen Volkes etwa keine Antwort? Ist es denn überhaupt möglich, gegen die institutionelle Ermordung des griechischen Volkes nicht seine Stimme zu erheben? Und kann man denn Stillschweigen bewahren angesichts der gewalttätigen Durchsetzung eines Systems, das den Gedanken der sozialen Solidarität als solchen aus der Rechtsordnung verbannt?
Wir befinden uns an einem Wendepunkt, von dem kein Weg mehr zurückführt. Es ist dringend geboten, den Krieg der Worte und der Zahlen auch von uns aus zu führen, um der ultraliberalen Rhetorik entgegenzutreten, die Angst und Fehlinformationen verbreitet. (…)
Technische Lösungen, mit denen man die Alternative „entweder Zerstörung der Gesellschaft oder Bankrott“ (was in Wirklichkeit, wie man heute sieht, bedeutet „sowohl Zerstörung der Gesellschaft als auch Bankrott“) vermeiden kann, sind schon vielfach vorgeschlagen worden. Alle müssen auf den Tisch, wenn darüber nachgedacht wird, wie ein anderes Europa aufgebaut werden kann. Aber zunächst einmal steht es an, das Verbrechen anzuzeigen und die Lage vollständig ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen, in der sich das griechische Volk heute aufgrund der „Hilfspläne“ befindet, die von und für die Spekulanten und Gläubiger erdacht worden sind. (…) Warten wir also nicht länger, schreiben wir immer mehr Artikel, ergreifen wir in den Medien das Wort, setzen wir Debatten in Gang, wo immer sie stattfinden können, starten wir Volksbegehren und Demonstrationen. Jede Initiative ist hier willkommen, jede Initiative dringend nötig. Wir selber ergreifen hiermit die Initiative für ein europäisches Komitee der Intellektuellen und Künstler, das der Solidarität mit dem griechischen Volk in seinem Widerstand dient. Wenn wir das nicht tun, wer dann? Wenn nicht jetzt, wann dann?

  • Vicky Skoumbi, Chefredakteurin der Zeitschrift ,aletheia’, Athen
  • Michel Surya, Direktor der Zeitschrift ,Lignes’, Paris
  • Dimitris Vergetis, Direktor der Zeitschrift ,aletheia’, Athen

Und: Daniel Alvaro, Alain Badiou, Jean-Christophe Bailly, Étienne Balibar, Fernanda Bernado, Barbara Cassin, Bruno Clément, Danièle Cohen-Levinas, Yannick Courtel, Claire Denis, Georges Didi-Hubermann, Roberto Esposito, Francesca Isidori, Pierre-Philippe Jandin, Jérôme Lèbre, Jean-Clet Martin, Jean-Luc Nancy, Jacques Rancière, Judith Revel, Elisabeth Rigal, Jacob Rogozinski, Avital Ronelli, Ugo Santiago, Beppe Sebaste, Michèle Sinapi, Enzo Traverso, Frieder Otto Wolf u.a.
Der gesamte Text des Aufrufes befindet sich auf der medico-Webseite (www.medico.de/griechenland) und kann dort auch unterzeichnet werden.

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